Der Wald und unser Leben
Der Wald und unser Leben
Nichts ist für mich mehr Abbild
der Welt und des Lebens als der Baum.
Vor ihm würde ich täglich nachdenken,
vor ihm und über ihn…
Christian Morgenstern
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Vor 150 Jahren schrieb der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau über sein Leben in einer Waldhütte. Sein Buch der grossen Waldsehnsucht «Walden: oder, Leben in den Wäldern» ist auch heute noch sehr beliebt. Der gestressten Gesellschaft überdrüssig, trieb es ihn Mitte des 19. Jahrhunderts in die einsamen Wälder von Massachusetts. Damals schrieb er: «Wir wohnen dicht zusammengepfercht, sind einander im Weg, stolpern übereinander und verlieren, meine ich, einigermassen den Respekt voreinander. Gewiss würde weniger grosse Häufigkeit für jeden bedeutenden und herzlichen Verkehr genügen.»
Der römische Geschichtsschreiber Tacitus begründete den Mythos vom deutschen Wald. Obwohl er selbst nie vor Ort war, berichtete er im ersten Jahrhundert nach Christus über die Wildheit der Wälder Germaniens und dessen Bewohner. Doch erst mit Beginn der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts wird der Wald, der lange Zeit als unheimlich und Heimat der Räuber gilt, zum Sehnsuchtsort. Der Schriftsteller Ludwig Tieck prägt erstmals in seinem Kunstmärchen «Der blonde Eckbert» (1797) den von ihm positiv gemeinten Begriff der «Waldeinsamkeit». Dieser sollte später etwa auch bei Joseph von Eichendorff bis hin zu Heinrich Heine zum Schlüsselwort der Romantik werden.
Die schwärmerische Waldbegeisterung der Romantiker fällt in eine Zeit, in der die Waldfläche rapide abnahm. Für die einsetzende industrielle Revolution wurde Holz zu einem immer wichtigeren Rohstoff. Als Gegenbild zur Rationalisierung und Modernisierung dienen oft auch Märchen – etwa die der Grimms. Bei den in Hanau aufgewachsenen und später in Kassel wohnenden Brüder, die Märchenstoffe sammelten, wird der Wald aber nicht nur idealisiert. Er hat auch wie schon zu vor-romantischen Zeiten noch etwas Unheimliches, wie zum Beispiel im «Rotkäppchen».
Auch für den irakischen Schriftsteller Usama Al Shahmani hatte der Wald zunächst etwas Bedrohliches. Erst nach seiner Flucht in die Schweiz hatte er den Forst kennengelernt:
«Der Wald ist unheimlich. Ein Ort, an dem Dämonen und andere Ungeheuer sein könnten. So steht es in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und in anderen Volksmärchen, die auch meine Grossmutter uns Kindern erzählte. So ist es im kollektiven Gedächtnis der Iraker verankert.»
In seinem Buch «Auf Spurensuche nach Natürlichkeit» erinnert der Autor, Wildnispädagoge und Überlebenstrainer, Bastian Barucker, daran, dass wir alle vor nicht allzu langer Zeit als Jäger und Sammler gelebt haben. Als Homo Sapiens seien wir lange Zeit eng verbunden mit der Natur gewesen und hätten uns an ihre Rhythmen angepasst. Stets habe der Mensch genommen, was er brauchte, und habe nur die Natur als sein Zuhause erlebt.
Der Boom der Waldschulen- und -kindergärten zeigt nicht zuletzt auch, dass es vielen Eltern am Herzen liegt, dass ihre Kinder naturnah lernen. Positiv zu bewerten sind alle Projekte, die Jugendliche weg von Facebook, TikTok und Counter Strike bringen und wieder in den Wald führen.
Shinrin-yoku bedeutet aus dem Japanischen übersetzt Waldbaden. Japanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Waldspaziergänge Puls und Blutdruck sinken lassen und die Cortisol-Konzentration verringern. Die Pharmaindustrie wird die stressreduzierende Wirkung dieser Waldbadegänge sicherlich mit Schrecken beobachten. Würde man eine breit angelegte Marketingkampagne starten und stressgeplagten Menschen Waldspaziergänge verordnen, so würden die Pharmariesen fortan auf ihren Beruhigungsmitteln und ihrer Psychopharmaka sitzenbleiben.
Japanische Studien haben laut Bastian Barucker des Weiteren belegt, dass Waldspaziergänge die Anzahl der natürlichen Killerzellen im Immunsystem deutlich ansteigen lässt, ihre Aktivität steigert und dass dieser Effekt wiederum noch viele Tag anhält. Ausserdem steige das Niveau der Anti-Krebs-Proteine im Körper, mit denen das Immunsystem Krebs vorbeuge oder im Fall einer Krebserkrankung den Tumor bekämpft. Das ginge so weit, dass nur schon das Betrachten der Natur oder eines Fotos der Natur Effekte auf unsere Gesundheit hätten.
Ganz anders reagiert unsere Psyche dagegen auf die Informationsflut aus dem Internet. So hat das Gesundheitsmagazin der Gesundheitskasse AOK berichtet, dass diese Flut an Nachrichten zu einer Reizüberflutung führen könne. Das Magazin verweist auf eine Studie der Universität Wien. Diese zeige, dass vor allem die Fülle audiovisueller Reize, die Internet-Videokanäle bieten, das Gehirn überfordern kann. Die subjektiv wahrgenommene Informationsüberflutung führe wiederum zu depressiven Symptomen und einem eingeschränkten Wohlbefinden.
Bastian Barucker
«Es gab eine Zeit, da waren wir immer draussen und fühlten uns dort zu Hause. Jeden Tag, jede Stunde mit dem Gefühl, dass das unser Platz ist. Wir sind biologisch dafür gemacht, so zu leben und es bedarf nicht viel, um die Symptome zu erkennen, die entstehen, wenn wir nun hauptsächlich domestiziert leben.»
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Waldbegeisterung auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat ideologisiert. Für ihre rassistisch völkischen Ziele instrumentalisierten die Nazis den Mythos vom angeblich reinen deutschen Wald. Die Sehnsucht nach der heilen Welt dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg das Waldbild der Deutschen. Daher erschien der Wald in den Nachkriegsjahren in einem eher kitschigen Licht. Diese Wahrnehmung fand ihren Ausdruck etwa in Heimatfilmen wie «Das Wirtshaus im Spessart» oder in Bildern vom «röhrenden Hirsch» in deutschen Wohnzimmern.
Auch der Künstler Joseph Beuys bot dem deutschen Wald eine Hommage. So realisierte er bei der documenta 7 in Kassel 1982 sein Projekt «Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung» mit 7000 Eichen. Viele der Eichen sind auch heute noch in der ganzen Stadt verstreut zu finden.
Auch die vielen Waldlehr- und Waldkunstpfade zeigen die gefühlsbeladene Beziehung der Deutschen zu ihrem Wald. Die neue digitale Kultur droht nun, diese Beziehung empfindlich zu stören. Stellt sich doch nun die Frage, was mit dem Waldzauber geschieht, wenn der Mensch dank GPS und Smartphone noch im dichtesten Wald zu orten ist. Der eingangs erwähnte amerikanische Philosoph Henry David Thoreau würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erfahren würde, wie der moderne Mensch seine Waldsehnsucht heute auslebt.
Intensiv hat sich der deutsche Schriftsteller und Förster Peter Wohlleben mit dem geheimen Band zwischen Mensch und Natur befasst. Seine Erkenntnisse etwa über die sieben Sinne des Menschen und den Herzschlag der Bäume hat er in seinen Büchern zusammengetragen. Darin geht er auch der Frage nach, ob Pflanzen ein Bewusstsein haben.
Indigene Kulturen gehen davon aus, dass alles miteinander verbunden ist und der Mensch nicht abgespalten von der Natur leben sollte. Folgen wir gelegentlich den Spuren dieser ursprünglich lebenden Völker und nehmen wir, so oft wir nur können, ein Bad im Wald.
Herzlich
Lena Kuder
«Russlands Gewissen», wie Ilja Repin den Schriftsteller Leo Tolstoi während einer «Rast im Wald» 1891 malte.