Europa soll Christlich bleiben

„EU braucht dringend Rückbesinnung auf ihre Grundwerte“
Einer der erfahrensten Vatikan-Diplomaten führt die Krise der Europäischen Union auch auf das Schwächeln der christlichen Werte zurück. Sechzig Jahre nach den Verträgen von Rom müsse man sich fragen, „ob die Entwicklung der EU immer noch ein Traum ist, ein „work in progress“ oder sogar ein Albtraum“. Das sagte Erzbischof Silvano Maria Tomasi, der frühere Ständige Vertreter des Heiligen Stuhls bei den UNO-Einrichtungen in Genf, bei einem Auftritt in Krakau.
Tomasi erinnerte daran, dass die Gründungsväter der EU „ein klares und optimistisches Ziel vor Augen“ gehabt hätten: Ihnen sei es, wie der Text der Römischen Verträge von 1957 zeige, um eine „konzertierte Aktion“ für „Solidarität“, „Frieden und Freiheit“ sowie um den „Abbau von Grenzen“ gegangen. „Diese Schlüsselworte zeigen, dass die Gründungsväter das neue soziale Experiment auf ein christlich-kulturelles Fundament setzten“, so der Erzbischof. Der christliche Glaube sei „Herzstück ihrer Vision“ gewesen. Doch in der heutigen europäischen Debatte spielten diese Schlüsselworte offensichtlich keine Rolle mehr, sie seien „nicht mehr in Mode“. Stattdessen dominierten „Worte wie Sicherheit, Mauern, Zäune, Kontrolle, Grenzen“. Damit seien die „grundlegenden Werte“ Europas „in den Hintergrund getreten“.
Tomasi machte auch auf eine neue Studie der Georgetown Universität von Washington aufmerksam, nach der vor allem Katholiken im Lauf der Jahrhunderte für ein geeintes Europa eingetreten seien. „Protestanten fühlten sich nie als Teil der kontinentalen Kultur und sahen nationale Grenzen als Schutz von Freiheiten an, die im Lauf der Geschichte von katholischen Mächten bedroht wurden“, zitierte er. „Katholiken drängten auf ein politisch geeintes Europa, während Protestanten gegen eine Abgabe von Souveränität an supranationale Institutionen waren und stattdessen die pragmatische Zusammenarbeit favorisierten.“ Natürlich dürfe man diese Erkenntnisse auch „nicht überbewerten“, so Tomasi. Doch die „zwei Traditionen“ kämpften auch jetzt „um das richtige Gleichgewicht“.
Der Vatikan-Erzbischof Tomasi ist einer der wichtigsten Denker im Päpstlichen Friedensrat. Er sprach auf einer Konferenz zum Thema Kirche und europäische Integration in Krakau. Sie wird von der Johannes-Paul-II.-Universität von Krakau, der Adenauer-Stiftung und der Schuman-Stiftung gemeinsam am Mittwoch und Donnerstag veranstaltet.
„Willkommenskultur impliziert nicht den Verzicht auf unseren Lebensstil“
Was die derzeitige Migrationsbewegung in die EU hinein betrifft, machte Tomasi deutlich, dass er nicht an ein Abflauen der Migrantenflut glaubt. „Viele, die im – soziologisch gesehen – Süden der Welt geboren wurden, werden auch in den kommenden Jahrzehnten auszuwandern versuchen, solange dieser Süden nicht die jährlich acht bis neun Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen vermag, die nötig wären, um die jungen Leute dort auf den Arbeitsmarkt zu bringen.“ Migration sei ein „Strukturelement unserer globalisierten Welt“ und bringe „auf längere Sicht Vorteile für alle, auch für die Herkunftsländer“.
Besorgt zeigte sich der Vatikan-Erzbischof über das weitverbreitete Unbehagen in europäischen Bevölkerungen angesichts der Migranten. „Leider herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung eine verzerrte Wahrnehmung, als bestünde das Problem darin, dass es entwurzelte Menschen gibt. Da wird das Opfer zum Sündenbock.“ Westliche Mächte trügen eine Mitschuld an der „Destabilisierung von Regionen wie dem Nahen Osten“ und könnten daher jetzt nicht „ihre Hände in Unschuld waschen“. Die Europäer sollten sich klarmachen, „dass eine Willkommenskultur nicht den Verzicht auf unseren Lebensstil impliziert“; allerdings werde Integration „problematisch“, wenn der vom Christentum inspirierte Lebensstil „verdunstet“.
Nach Tomasis Analyse gehen die Integration von Einwanderern in der EU und der Integrationsprozess von Staaten in der EU „Hand in Hand“. Dieser „doppelte Prozess“ basiere „auf einer Kultur der Solidarität und der Bemühung um das Gemeinwohl“. Auf dem „Doppelgleis von Solidarität und Gemeinwohl“ komme die EU sicher voran in die Zukunft, „weil hier ihre Wurzeln liegen, christliche Wurzeln“. Der Erzbischof wörtlich: „Technische Expertise, Wirtschaftsvereinbarungen und Handelsabkommen sind nützlich und sogar nötig, aber nicht ausreichend, um eine Zweckgemeinschaft zu begründen. Eine spirituelle Dimension muss ebenfalls dabei sein.“
(rv 21.09.2016 sk)
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